Partnerschaft auch in schweren Zeiten

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Vertreter der Donezker Nationalen Technischen Universität und der Universität Stuttgart feierten das 50-jährige Bestehen ihrer Zusammenarbeit. vlnr: Jaroslav Ljashok (Rektor, DonNTU), Prof. Volodymyr Svjatnyj (Abteilungsleiter, Computer Engineering, DonNTU), Prof. Wolfram Ressel (Rektor, Universität Stuttgart), and Prof. Michael Resch (Direkor, HLRS).

Bei einer Jubiläumskonferenz am 8. November feierten die Donezker Nationalen Technischen Universität und die Universität Stuttgart 50 Jahre Zusammenarbeit.

1973, in einer Zeit der Annäherung zwischen Ost und West, knüpften junge ukrainische und deutsche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erste Kontakte zwischen den Universitäten Donezk und Stuttgart. 50 Jahre danach prägen aufgrund des Krieges Solidarität und Unterstützung die Partnerschaft. Die DonNTU befindet sich im Exil in der Westukraine. Ein großer Teil der Lehrkräfte und Studierenden sind über die Ukraine und verschiedene Länder verstreut und halten den Lehrbetrieb digital aufrecht, auch mit Hilfe der Universität Stuttgart.

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Dabei bewährt sich die über Jahrzehnte gefestigte Zusammenarbeit in Lehre und Forschung. Rektor Prof. Wolfram Ressel betont zum Jubiläum: „Die Kooperation und langjährige Zusammenarbeit mit der DonNTU ist eine einmalige, auf Vertrauen bauende und von Freundschaften begleitete Partnerschaft von Wissenschaftler*innen auf dem Gebiet des Höchstleistungsrechnens und der Simulationswissenschaften. Der anhaltende Angriffskrieg Russlands in der Ukraine hat die Universitäten in Stuttgart und Donezk noch enger zusammengeführt und die wissenschaftliche Zusammenarbeit vertieft. Daran wollen wir festhalten!“

Initiator der länderübergreifenden Vernetzung ist Volodymyr Svjatnyj, Professor für Simulationstechnik,Leiter der Abteilung Computer Engineering an der DonNTU und seit 2013 Träger der Ehrenmedaille der Universität Stuttgart. 2022 ist Prof. Svjatnyj nach Deutschland geflüchtet und arbeitet auf Einladung von Prof. Michael Resch, Leiter des Instituts für Höchstleistungsrechnen (IHR) und Direktor des Höchstleistungsrechenzentrum Stuttgart, derzeit als Gastwissenschaftler an der Universität Stuttgart.

Michael Resch erklärt: „Wir sind stolz darauf, dass die Partnerschaft zwischen den Wissenschaftsgemeinschaften in Stuttgart und Donezk trotz Krisen und wechselnder politischer Verhältnisse über die Jahre hinweg Bestand hat und weiterhin stark ist. Die Wissenschaft profitiert unermesslich von einer vertrauensvollen, internationalen Zusammenarbeit, und unsere Partnerschaft mit der DonNTU hat viele Vorteile für die Forschung sowohl in Deutschland als auch in der Ukraine gebracht. Angesichts des anhaltenden Krieges ist es uns sehr wichtig, dass wir diese Zusammenarbeit fortsetzen.“

Reger Austausch und persönliche Kontakte

Volodymyr Svjatnyj, Jahrgang 1937, blickt zurück auf den Beginn der Partnerschaft: „Das war damals eine interessante Epoche, nachdem Leonid Breschnew und Willy Brandt eine Zusammenarbeit auf verschiedenen Feldern vereinbart hatten“, erzählt Prof. Svjatnyj. Ihm ermöglichte damals ein zehnmonatiges DFG-Stipendium einen Aufenthalt am Institut für Systemdynamik und Regelungstechnik (ISR, heute Institut für Systemdynamik ISYS) der Universität Stuttgart. Svjatnyj forschte dort gemeinsam mit dem zwei Jahre älteren ISR-Direktor Prof. Ernst-Dieter Gilles an hybriden Rechensystemen. „Manchmal treffen die richtigen Leute am richtigen Ort zusammen“, bringt Svjatnyj die Geburtsstunde der bis heute andauernden Hochschul-Kooperation auf den Punkt.

Gruppenfoto

Die Partnerschaft zwischen dem DNTU und der Universität Stuttgart hat von zahlreichen Treffen profitiert. Im Jahr 2007 fand eine gemeinsame Forschungskonferenz in Laspi (Krim) statt. Foto mit freundlicher Genehmigung von Prof. Svjatnyj.

 

Die Forschung Svjatnys mit dem Schwerpunkt parallele Simulationstechnik, diente der Bergbau- und Kohleindustrie in der Region Donbasregion in der Ostukraine. Auch an seinen Deutschkenntnissen konnte der Forscher feilen, der schon in der Schule Deutsch gelernt hatte und im Stuttgart der 1970er Jahre mit jungen Menschen aus unterschiedlichen Ländern zusammenarbeitete und wohnte.

1989 besuchte Prof. Andreas Reuter, Gründungsdirektor des Instituts für Parallele und Verteilte Höchstleistungsrechner an der Universität Stuttgart, die Sowjetunion. Die Netzwerke wurden weiter ausgebaut und 1990 lud Prof. Reuter Delegationen aus der Sowjetunion, der DDR und der Bundesrepublik zu einer Informatik-Konferenz nach Stuttgart.

Im ersten Flugzeug nach dem Putsch 1991 flog Prof. Svjatnyj Richtung Stuttgart

1991 erlaubte das Moskauer Ministerium für Hochschulwesen Svjatnyj offiziell, direkte Kontakte zu anderen Hochschulen aufzubauen. Er trat umgehend mit den Professoren Gilles, Reuter und Rudolf Lauber, Leiter des Instituts für Automatisierungs- und Softwaretechnik (IAS), in Kontakt und flog nach Stuttgart – „mit dem ersten Flugzeug, das nach dem Augustputsch Moskau verließ.“ Die vier Professoren vereinbarten eine direkte Zusammenarbeit ihrer Institute, was in den Folgejahren Gastaufenthalte von Studierenden, gemeinsame Forschungsarbeiten, Veröffentlichungen und Lehrveranstaltungen ermöglichte. 1992 initiierte Svjatnyj einen deutschsprachigen Studiengang nach dem Vorbild der Stuttgarter Technischen Informatik und mit „ParSimTech“ entstand ein Forschungs- und Schulungszentrum für parallele Simulationstechnik.

Ukrainische Stipendiat:innen des DAAD-Leonhard-Euler-Stipendienprogramm am HLRS in 2015.

Gruppenbild im Büro

Im Jahr 2000 wurde eine Kooperationsvereinbarung über gemeinsame Aktivitäten in Forschung und Lehre unterzeichnet. Seitdem folgten zahlreiche gegenseitigen Besuche und 2013 eine gemeinsame Konferenz in Donezk. Bis heute wurden 102 ukrainische Stipendiatinnen und Stipendiaten durch ein Surplace-Stipendium in Donezk sowie einKurzzeit-Stipendium an der Universität Stuttgart im Rahmen des Leonhard-Eulers-Stipendienprogramms des DAAD gefördert. Bis 2014 waren die Lehrstühle für Rechentechnik und für Angewandte Mathematik und Informatik sowie teilweise der Lehrstuhl für Geodäsie der DonNTU an der Kooperation mit der Universität Stuttgart beteiligt. Nach Kriegsbeginn 2014 in der Ostukraine verblieben durch die Separatisten verwaltete Universitätseinrichtungen am alten Standort, während die meisten Mitarbeitenden der DonNTU in die Kleinstadt Pokrowsk wechselten, wo sie mit Unterstützung des ukrainischen Staates und ausländischen Förderungen eine neue Infrastruktrur aufbauen und beinahe das gesamte Bildungsangebot aufrechterhalten konnten. 2022 musste die Universität auch aus Pokrowsk fliehen und befindet sich nun in Lutsk im westlichen Teil der Ukraine. Die Mitarbeitenden konnten nur einen Teil der Ausstattung mitnehmen, die Lehrenden und Studierenden sind in der Ukraine und in verschiedenen Ländern verstreut. Der Unterricht findet überwiegend digital statt.

Unterstützung im Rahmen von „Ukraine digital“

„Im Frühjahr 2022 kam eine Welle von Hilfsangeboten bei uns an“, berichtet Elena von Klitzing, Leiterin des Welcome Campus for Refugees am Dezernat Internationales der Universität Stuttgart. Mit persönlicher Unterstützung für die ukrainischen Fachkolleginnen und -kollegen und über die Aufnahme von geflüchteten Forschenden hilft die Universität Stuttgart der DonNTU seit 2022 insbesondere im Rahmen des DAAD-Programms „Ukraine digital“ ihren Lernbetrieb aufrechtzuerhalten. „Wir unterstützen geflüchtete Lehrkräfte der DonNTU, damit sie ihre Tätigkeit fortführen können und helfen ukrainischen Studierenden in besonderen finanziellen Notlagen.“

Mehrere Personen entladen Kisten von einem Lastwagen

In Mai 2017 übergab das HLRS der DonNTU einen Cluster mit 80 Rechenknoten als humanitäre Hilfe. Foto mit freundlicher Genehmigung von Prof. Svjatnyj.

 

So konnten ukrainische Forschende 2022 für einen Monat an Einrichtungen und Laboren in Stuttgart ihre Arbeit fortsetzen und digitale Angebote nutzen, die während der Pandemie entwickelt worden waren. Beteiligt sind die Institute für Siedlungswasserbau, Wassergüte- und Abfallwirtschaft (ISWA), für Systemtheorie und Regelungstechnik (IST), für Höchstleistungsrechnen (IHR), für Erziehungswissenschaft (IfE), für Literaturwissenschaft, das Betriebswirtschaftliche Institut sowie das Sprachenzentrum. „Um den Lehrbetrieb fortführen zu können ist es notwendig, alle Möglichkeiten der digitalen Lehre auszuloten sowie Anregungen und Best Practice - Beispiele zu übernehmen. Diese Anregungen sind allerdings keine Einbahnstraße. Dies bedeutet, dass wir Dozentinnen und Dozenten der Universität Stuttgart im Bereich der digitalen Lehre auch aus den Erfahrungen   unserer ukrainischen Kolleginnen und Kollegen lernen können“, so Martina Widon, akademische Mitarbeiterin am Sprachenzentrum.

„Die Solidarität aus Stuttgart ist uns sehr wichtig“

„Im Vergleich zum Frühjahr 2022 ist die Situation derzeit stabiler und die DonNTU hat es geschafft, trotz des Ausfalls von Lehrkräften ihr Bildungsangebot aufrechtzuerhalten. Das ist sehr bemerkenswert“, sagt von Klitzing. „Aber es kann jeden Tag etwas passieren, es kann Angriffe auf die Infrastruktur geben und dann ist die Lage wieder dramatisch.“ Ziel sei nun, dass aus der bisher geleisteten Soforthilfe weitere Projekte entstehen. Eine langfristige Perspektive sei aber schwierig. „Neben der von persönlichen Kontakten getragenen Zusammenarbeit sind wir von den DAAD-Mitteln abhängig.“ Dies betreffe auch andere Förderlinien, mit denen das Dezernat Internationales schon eine große Zahl geflüchteter ukrainischer Studierender und Studieninteressierter unterstützen konnte.

„Es ist für uns sehr wichtig, auch in dieser schweren Zeit universitär zu arbeiten, zu lehren und zu forschen“, betont der Ukrainer Volodymyr Svjatnyj. „Die Solidarität unserer deutschen Kollegen ist uns dabei sehr wichtig und hilft ganz konkret, dass junge Leute ihre Ausbildung fortsetzen können.“

Dieser Artikel wird mit Genehmigung der Universität Stuttgart veröffentlicht.