Wie auf der Bühne: „Re/Producing Realities“ untersucht, wie digitale Medien Realitäten erzeugen

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In der CAVE im Visualisierungslabor des HLRS entwerfen die Wissenschaftler*innen eine virtuelle Theaterumgebung.

In einer neuen Kooperation mit dem Institut für Literaturwissenschaft der Universität Stuttgart wird das HLRS an der interdisziplinären Forschung an der Schnittstelle von Theater, Technik und Simulation teilnehmen.

Im neuen Forschungsfokus „Re/producing Realities“ (Re²) untersuchen Forschende aus den Geistes-, Ingenieurs-, Simulations- und Visualisierungswissenschaften der Universität Stuttgart, wie Medien die reale Welt nachbilden, eigene Wirklichkeiten erschaffen und wie Menschen mit diesen Inszenierungen umgehen. Das Theater und seine Techniken dienen dabei als Modell für die Gestaltung virtueller, fiktionaler und digitaler Welten. Ziel ist es unter anderem, die digitale Bildung zu verbessern und die Zusammenarbeit zwischen den Disziplinen zu verstärken und auszubauen.

Kulturhistorische Wurzeln digitaler Medien

„Die Produktion und Reproduktion von Wirklichkeiten beschäftigt Kunst und Wissenschaft seit langem. Mit dem Wandel der Medienkultur und der Digitalisierung der Gesellschaft sind diese Themen heute drängender denn je“, erklärt Professorin Kirsten Dickhaut, Geschäftsführende Direktorin des Instituts für Literaturwissenschaft (ILW) an der Universität Stuttgart. Im Stuttgart Research Focus (SRF) Re2 analysieren die Wissenschaftler*innen Theatertechniken, zum Beispiel die Inszenierung oder Choreografie, und deren Einfluss auf die Gestaltung von Wirklichkeiten in heutigen Medien. Interdisziplinäre Projektteams gehen den kulturhistorischen Wurzeln der Interaktion und Kommunikation in digitalen Räumen auf den Grund: Sie untersuchen, unter welchen Bedingungen und nach welchen Mustern Medien Wirklichkeiten simulieren und gestalten. Außerdem gehen sie der Frage nach, wie die Nutzerinnen und Nutzer die dort erzeugten Welten rezipieren. 

Theater im Zentrum interdisziplinärer Forschung

Im Zentrum der Forschung von Re² steht das Theater mit all seinen Sparten. „Theater ist per se technisch und inszeniert“, erläutert Professor Michael Resch, Direktor des Höchstleistungsrechenzentrums Stuttgart (HLRS). „Wir können die Inszenierungstechniken der Digitalisierung in die Theaterwelt übertragen und gleichzeitig  sind alle digitalen und technischen Systeme Inszenierungen“. Einerseits hält die Digitalisierung mit Hologrammen oder 3D-Animationen Einzug ins Theater.  Andererseits nutzen digitale Medien theatrale Techniken und Praktiken nicht nur um virtuelle Räume zu schaffen, sondern auch um zu kommunizieren. „Schon im antiken Theater haben die Menschen den Daumen gehoben oder gesenkt“, berichtet Dickhaut. „Ob Facebook, Twitter oder Instagram: Diese Geste ist bis heute gemeinschaftsstiftend.“ Theatrale Techniken und Konventionen kommen bei Videokonferenzen, Virtual-Reality-Präsentationen, der Entwicklung von Computerspielen und autonomen Fahrzeugen oder der Gestaltung des Zusammenspiels von Menschen und Robotern in der Produktion zum Einsatz. „Bei der Entwicklung inszenierter Welten werden Aspekte der Interaktion und die Frage, wie die Menschen auf unsere Simulationen reagieren, wichtiger als technische Herausforderungen“, sagt Resch.

Mit 3D-Brillen tauchen die Nutzer*innen immersiv in eine Virtual-Reality-Umgebung ein. Foto: Max Kovalenko

Historisches Theater mit Digitalisierung sichtbar machen

Mit Hilfe digitaler Technologien wollen die Forschenden vergangene Theaterwelten sichtbar machen. Dazu gehören unter anderem 3D-Scans historischer Theater, der Nachbau historischer Theatermaschinen mit Hilfe digitaler Zwillinge, die Visualisierung verschiedener Theatertechniken sowie die Analyse ihrer Darstellung in Theatertexten und anderen literarischen Gattungen. Darüber hinaus sollen im Rahmen von Re² neue Transferformate entstehen, um die Forschungsergebnisse in die Öffentlichkeit zu tragen. So soll die geplante digitale Ausstellung „Maschinentheater“, die noch in diesem Jahr mit einer Vernissage eröffnet wird, einen Blick hinter die Kulissen der französischen Theaterwelt des 17. Jahrhunderts ermöglichen. Anhand von Animationen und Zeichnungen wird veranschaulicht, welche Effekte Theateringenieure schon am Hofe des „Sonnenkönigs“ Ludwig XIV. auf die Bühne bringen konnten.

Kritische Auseinandersetzung mit der digitalen Welt

Ausgehend von den Theatertechniken wollen die Projektpartnerinnen und -partner eine neue Theorie der Fiktion entwickeln, um die Produktion und Reproduktion von Realitäten zu analysieren. Re² soll zu einem interdisziplinären Forschungszentrum ausgebaut werden, das den „Stuttgarter Weg“ der konsequenten Zusammenarbeit zwischen den Disziplinen in die Praxis umsetzt und eine akademische Kultur fördert, die auf Vielfalt, Gleichberechtigung und Inklusion setzt. Ein zentrales Ziel ist es zudem, die digitale Bildung zu verbessern und vor allem junge Menschen für die Hintergründe, die Entstehung und die Grenzen virtueller Welten zu sensibilisieren. „Wir wollen sie in die Lage versetzen, Realität und Fiktion in der digitalen Welt kritisch zu hinterfragen“, betonen Dickhaut und Resch. Von der Forschung sollen alle profitieren, die in der medialen, sozialen und digitalen Bildung und in der Theaterwelt unterwegs sind. Im Hinblick auf den Umgang mit kontroversen Themen wie Künstliche Intelligenz richtet sie sich darüber hinaus an Entscheidungsträgerinnen und -träger aus Politik und Wirtschaft.

Der Stuttgart Research Focus (SRF) Re/Producing Realities (Re2) wird vom Stuttgarter Forschungsrat gefördert. Beteiligt sind bislang das Institut für Literaturwissenschaften (ILW), der Stuttgarter Maschinenbau, das Hochleistungsrechenzentrum Stuttgart (HLRS), sowie das Institut für Visualisierung und Interaktive Systeme (VIS) und Visualisierungsinstitut der Universität Stuttgart (VISUS). Das Deutsche Literaturarchiv (DLA), die Staatliche Akademie der Bildenden Künste (ABK) Stuttgart, das Institut für Wissensmedien (IWM), das Stuttgarter Staatstheater und das Theater Junges Ensemble Stuttgart (JES) unterstützen den SRF als externe Partner.

Dieser Artikel wurde ursprünglich auf der Website der Universität Stuttgart veröffentlicht.