Fortissimo im Wandel: Ein Interview mit Guy Lonsdale

Porträtfoto von Guy Lonsdale
Als Organisator der offenen Ausschreibungen für die Fortissimo-Projekte hat Guy Lonsdale (scapos AG) die Einführung von High-Performance-Computing und künstlicher Intelligenz in KMU und Start-ups gefördert.

Angesichts des wachsenden Interesses an künstlicher Intelligenz bei KMU und Start-ups baut das jüngste Fortissimo-Projekt - FFplus - nicht nur auf einer erfolgreichen Geschichte auf. Mit dem Start von Innovationsstudien unterstützt es auch neue Nutzergemeinschaften.

Seit mehr als zehn Jahren unterstützen die Projekte der Fortissimo-Reihe europaweit kleine und mittelständische Unternehmen (KMU), indem sie Geschäftsexperimente mit Höchstleistungsrechnern (HPC) fördern. In diesen Experimenten wird untersucht, inwieweit sich Herausforderungen von Unternehmen mit HPC lösen lassen. Das HLRS ist seit Beginn der Reihe als Projektpartner beteiligt und koordiniert nun die aktuelle Förderphase FFplus.

Eine weitere Schlüsselrolle in der Fortissimo-Geschichte spielt Dr. Guy Lonsdale, CEO der scapos AG, die auf die Vermarktung von Softwareprodukten spezialisiert ist. Lonsdale hat einen Hintergrund in numerischer Mathematik und leitet sowohl in FFplus als auch in den Vorgängerprojekten die offenen Ausschreibungen. Er ist ein großer Befürworter von HPC für kleine und mittelständische Unternehmen.

Der Beginn von FFplus im Jahr 2024 markierte ein neues Kapitel in der Geschichte von Fortissimo, da KMU erstmals Anträge für „Innovationsstudien“ einreichen durften, die sich auf die Entwicklung von Lösungen für künstliche Intelligenz (KI) mit Schwerpunkt auf generativer KI konzentrieren. Auf die ersten beiden offenen Ausschreibungen des Projekts bewarben sich nicht nur traditionelle HPC-Nutzer:innen aus dem Maschinenbau und der Fertigungsindustrie. Die Bewerbungen stammten unter anderem aus dem Finanzwesen, der Medizinbranche oder dem Journalismus. Wir haben mit Guy Lonsdale über die Entwicklung und die Auswirkungen der Fortissimo-Projekte gesprochen. In einem Interview ging es darum, wie künstliche Intelligenz Höchstleistungsrechenzentren die Tür zu neuen Nutzergemeinschaften öffnet.

Wie hat Fortissimo angefangen und was war das initiale Ziel der Projektreihe?

Kurz nach der Finanzkrise im Jahr 2008 erkannte die Europäische Kommission den Bedarf an einem Förderprogramm für die Industrie, vor allem die Fertigungsbranche. In diesem Zuge wurde das Programm „Factories of the Future“ eingeführt. Damals erkannte man auch, dass große Unternehmen, beispielsweise aus der Automobil- und Luftfahrtindustrie, regelmäßig Höchstleistungsrechner einsetzen, während KMU vor großen Herausforderungen stehen und dies in der Regel nicht tun. Die Kommission entwickelte daher ein Programm, das sich speziell an produzierende KMU richtet und im Mittelpunkt der ersten beiden Fortissimo-Projekte stand.

Das Fortissimo-Konzept bestand darin, Experimente zu unterstützen, bei denen KMU HPC zur Bewältigung einer geschäftlichen Herausforderung einsetzen konnten. Obwohl das Konzept einen Forschungsaspekt hatte, lag der Schwerpunkt vielmehr darin, die Vorteile des Einsatzes von HPC in einem kommerziellen Kontext aufzuzeigen. Die aktuellen Fortissimo-Projekte nutzen sogenannte „kaskadierende Förderungsmechanismen“, um die aus KMU bestehenden Konsortien finanziell zu unterstützen. Die EuroHPC Joint Undertaking (EuroHPC JU) bezuschusst FFplus. Wir führen wettbewerbsorientierte offene Ausschreibungen durch, und evaluieren sowie wählen die besten Anträge mithilfe externer Experten aus. Die Gewinnerunternehmen erhalten Fördergelder und Unterstützung – FFplus stellt jedoch keine Rechenressourcen bereit. Stattdessen wird erwartet, dass die KMU über das Zugangssystem der EuroHPC JU Rechenzeit auf deren Höchstleistungsrechnern beantragen.

Letztendlich haben die Projekte Auswirkungen auf die Teilnehmenden und die daraus resultierenden Erfolgsgeschichten bieten Fortissimo Möglichkeiten, das breitere Ökosystem potenzieller HPC-Nutzer:innen zu erreichen. Wie ich kleinen Unternehmen immer sage: Wenn ein ähnliches KMU HPC erfolgreich einsetzt, könnte es auch für Sie nützlich sein.

Haben Sie im Laufe der Geschichte von Fortissimo festgestellt, dass KMU Höchstleistungsrechner nun anders einsetzen?

Zu Beginn von Fortissimo wurde Höchstleistungsrechnen in der Fertigung hauptsächlich für Modellierung und Simulation eingesetzt – unter anderem in numerischer Strömungsmechanik, Strukturmechanik und molekularer Modellierung. Im FF4EuroHPC-Projekt, das FFplus unmittelbar vorausging, war es noch viel Modellierung und Simulation. Gleichzeitig gingen jedoch auch Bewerbungen für Projekte mit maschinellem Lernen, künstlicher Intelligenz und Big-Data-Analysen ein. Bei FF4EuroHPC lag der Schwerpunkt weiterhin auf der Fertigung, doch haben wir in der zweiten Ausschreibung umpriorisiert, um ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der Fertigung und anderen Branchen zu erreichen.

Innerhalb eines von FF4EuroHPC unterstützten Experiments entwickelte ein Team in Montenegro eine Lösung, die Bilderkennung und künstliche Intelligenz kombiniert, um kranke Hühner auf einer Geflügelfarm zu identifizieren. Dank der Ergebnisse können Landwirte die Kosten für Arbeitskräfte sowie die Sterblichkeitsrate von Hühnern senken und so jährlich Hunderttausende von Euro einsparen. Bild verwendet unter Genehmigung von FF4EuroHPC.

Mit FFplus haben sich zwei wichtige Punkte geändert: Zum einen haben wir jetzt zwei sehr unterschiedliche Arten von Teilprojekten. Der erste Typ ist wie das klassische Fortissimo, bei dem HPC-fremde KMU in einem Experiment HPC als Lösung ihrer geschäftlichen Herausforderungen testen. Der andere Typ konzentriert sich auf die Technologieentwicklung für künstliche Intelligenz, insbesondere für generative KI. Hierbei werden beispielsweise Basismodelle oder große Sprachmodelle (LLMs) entwickelt und abgestimmt. Diese Teilprojekte werden von Konsortien aus KMU mit Vorkenntnissen zu KI-basierten Geschäftsmodellen umgesetzt, denen bislang der Zugang zu großen europäischen HPC-Ressourcen fehlte, um die Ziele ihrer LLMs zu erreichen. Bei der ersten offenen Ausschreibung von FFplus im Jahr 2024 haben wir festgestellt, dass sich auch KMU, die neu im Bereich HPC sind, sehr oft auf KI konzentrieren. Die Mehrheit der Anträge befasste sich mit KI allein oder in Kombination mit digitalen Zwillingen, die von KI angetrieben werden und maschinelles Lernen mit Simulation kombinieren.

Inwiefern haben sich wegen des Schwerpunkts auf künstlicher Intelligenz in FFplus andere Unternehmen als früher für eine Teilnahme beworben?

Das Spannende an der künstlichen Intelligenz ist, dass sie Anwendungen ermöglicht, die für viele industrielle und wirtschaftliche Sektoren relevant sind. Bei unserer ersten offenen Ausschreibung haben wir Anträge aus einer großen Bandbreite von Branchen und aus diversen europäischen Ländern erhalten. Für die Innovationsstudien haben wir uns auf KMU mit einem bereits bestehenden KI-basierten Geschäftsmodellkonzentriert. Aber insgesamt haben wir eine sehr bunte Mischung: Einige der Unternehmen entwickeln zum Beispiel medizinische Anwendungen, eine Reihe von Unternehmen aus dem Finanzwesen und Umweltbereich haben sich beworben. Wir haben auch Projekte aus der Informations- und Kommunikationstechnik sowie der Medienindustrie.

Einige Unternehmen verfügen über KI-Know-how, haben aber noch nie HPC eingesetzt und erkennen, dass sie mit dem Zugang zu Großrechnern mehr erreichen können. Andere wiederum wagen sich nur zaghaft an KI heran. Sie haben gehört, dass KI einen Einfluss haben könnte, und wissen, was sie tun wollen. Sie holen sich Unterstützung von Partnern, die sich ihre bisherigen Aktivitäten ansehen und mögliche nächste Schritte vorschlagen. So beziehen sie beispielsweise maschinelles Lernen in ihren Modellierungs- und Simulationsansatz ein, um schnellere oder umfassendere Ergebnisse zu erzielen.

Sie haben erwähnt, wie wichtig Erfolgsgeschichten sind, um andere Unternehmen von den Stärken des HPC zu überzeugen. Welche Rolle spielt die Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit in den Fortissimo-Projekten?

Eine tragende Rolle. Die nationalen Kompetenzzentren (NCC) der vom HLRS koordinierten Projekte CASTIEL 2 und EuroCC 2 haben ebenfalls dazu beigetragen. In 33 europäischen Ländern ist jedes NCC in der Regel in einem Höchstleistungsrechenzentrum angesiedelt und verbindet HPC-Nutzer mit Ressourcen, die ihnen helfen können. Die NCCs sollen KMU in ihren Heimatländern erreichen und tragen dazu bei, viele der Anträge für FFplus zu unterstützen. Sie nehmen unter anderem Broschüren zu den Erfolgsgeschichten oder Fortissimo-Videos mit zu Unternehmen und sagen: „Hey, schaut euch das an. Das ist relevant für euer Unternehmen.“ Die Erfolgsgeschichten konzentrieren sich zum Beispiel auf die Beschleunigung eines Design- oder Geschäftsprozesses oder die Kosteneinsparung mit der Aussicht auf Einstellung neuer Mitarbeitender oder Umsatzsteigerung. Dies sind für KMU die entscheidenden geschäftlichen Argumente für den Einsatz von HPC.

Hat sich durch den Einsatz von KI und datengesteuerten Methoden etwas an den Bedürfnissen der Fortissimo-Community verändert – im Vergleich zu früher, als der Fokus noch auf klassischen Simulationen lag?

Wenn KMU beispielsweise HPC für Strömungssimulationen verwenden, benötigen sie Unterstützung beim Wechsel zu einem großen Cluster oder einem Höchstleistungsrechner. Zu ihren Fragen gehören: Wie verwende ich dieses Remote-System? Wenn ich Software remote ausführe, wie verwalte ich dann meine Jobs? Welche Lizenzen sind bei der Verwendung kommerzieller Software auf diese Weise relevant? In gewisser Weise geht es hier mehr um IT-Systemmanagement als um HPC. Darüber hinaus benötigen in Simulationen unerfahrene KMU jemanden mit HPC- und Software-Erfahrung, um ihre Designherausforderung zu verstehen und sie an die Hand zu nehmen. In der Vergangenheit benötigten KMU nach Abschluss des Fortissimo-Geschäftsexperiments häufig weiterhin Unterstützung.

„Wie ich kleinen Unternehmen immer sage: Wenn ein ähnliches KMU HPC erfolgreich einsetzt, könnte es auch für Sie nützlich sein."

Mittlerweile sehen wir, dass die meisten KMU nicht viel Hilfe brauchen. Einige KI-Unternehmen wissen genau, was sie tun wollen, und brauchen nur Zugang zu größeren Systemen und Unterstützung bei der Suche nach den erforderlichen Ressourcen. Dies ist teilweise die Aufgabe von FFplus. Wir vermitteln den Kontakt zu den richtigen Ansprechpartnern für Beratung und Support. Im Anschluss ist der Zugriff auf Daten für das Trainieren der Software häufig eine Herausforderung.

Was ist für Sie die wichtigste Errungenschaft von Fortissimo?

Ich denke, dass wir mittlerweile sehr bekannt sind, nicht nur auf der Ebene der Europäischen Kommission und der EuroHPC Joint Undertaking, sondern auch in der Nutzergemeinschaft. Die nationalen Kompetenzzentren waren wegen des großen Mehrwerts sehr daran interessiert, KMU in ihren Ländern in das Programm einzubeziehen. Die KMU, die sich bewerben, kennen die möglichen Vorteile bereits. Als Ergebnis haben wir jetzt eine große Sammlung an Erfolgsgeschichten, die das Potenzial für einige Anwendungen aufzeigen. Der Fokus liegt nun nicht mehr nur auf Crash-Simulationen, Aerodynamik oder klassischer Großforschung wie Wettervorhersagen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Wir hatten ein Projekt in Montenegro, bei dem künstliche Intelligenz auf einem HPC-System eingesetzt wurde, um den Gesundheitszustand der Hühner auf einer Geflügelfarm zu beobachten. Auswirkungen auf die breitere Gesellschaft aufzuzeigen und Anwendungen in neuen Bereichen wie diesem zu erforschen, ist wahrscheinlich unser größter Erfolg.

Wie wird sich Fortissimo Ihrer Meinung nach in den kommenden Jahren entwickeln?

Die Gewinner-Teilprojekte der ersten offenen Ausschreibung von FFplus haben gerade erst begonnen – wir haben diesmal zwei Tranchen von Ausschreibungen vor uns, insgesamt also vier weitere Teilausschreibungen. Derzeit gehen wir davon aus, dass sich der Ansatz nicht wesentlich ändern wird, aber gleichzeitig geht mit dem zunehmenden Einsatz künstlicher Intelligenz eine rasante Weiterentwicklung des HPC einher. Auf der vergangenen ETP4HPC-Konferenz hielt Dr. Franck Capello vom Argonne National Laboratory einen Vortrag, in dem er erläuterte, wie sich große Sprachmodelle in Zukunft als Forschungsassistenten einsetzen ließen. Forschende wären demnach von der Datenanalyse befreit und könnten Hypothesen entwickeln sowie die Experimente durchführen, die zur Überprüfung dieser Hypothesen erforderlich sind. Capello erläuterte auch die Fähigkeiten der derzeitigen LLMs zur Lösung komplexer technischer Fragen, und das war ziemlich schockierend. Sie verwenden LLMs, um Probleme zu lösen, für die nur ein Doktorand oder ein Postdoc mit Fachkenntnissen auf diesem Gebiet ihre Leistung hätte erbringen können. 

Einerseits könnte man meinen, dass wir noch drei Jahre FFplus haben, bevor wir uns Gedanken über die Zukunft machen müssen. Wenn ich jedoch Geschichten wie diese höre, scheinen drei Jahre eine lange Zeit zu sein. Es könnte sich in der Zwischenzeit noch einiges verändern.

Weitere Informationen zu FFplus finden Sie unter www.ffplus-project.eu.

— Interview von Christopher Williams

Dieses Gespräch wurde aus Gründen der Klarheit und Lesbarkeit bearbeitet.