Großsimulation liefert neue Einblicke in Turbulenz

Bunte Visualisierung einer turbulenten Grenzschicht, im Profil gesehen.
Ab einem bestimmten Punkt in der Entwicklung einer turbulenten Strömung – beispielsweise wenn Luft über einen Flügel im Flug strömt – behält der äußere Bereich der turbulenten Grenzschicht (wo Blau dominiert) eine beständige, selbstähnliche physikalische Struktur bei. Bild: IAG, Universität Stuttgart.

Mit dem Supercomputer Hawk des HLRS erzeugten Wissenschaftler der Universität Stuttgart erstmals hochauflösende Simulationsdaten, die den Übergang von niedrigen zu hohen Reynoldszahlen in turbulenten Grenzschichten beschreiben.

Wissenschaftler des Instituts für Aerodynamik und Gasdynamik (IAG) der Universität Stuttgart haben einen neuartigen Datensatz erstellt, der die Entwicklung von Turbulenzmodellen verbessern wird. Mithilfe des Supercomputers Hawk am Höchstleistungsrechenzentrum Stuttgart (HLRS) führten die Forscher im Labor von Dr. Christoph Wenzel eine groß angelegte direkte numerische Simulation einer sich räumlich entwickelnden turbulenten Grenzschicht durch. Die Simulation, bei der mehr als 100 Millionen CPU-Stunden auf Hawk verbraucht wurden, erfasst den Beginn eines kanonischen, voll entwickelten turbulenten Zustands in einer einzigen Rechendomäne. Die Studie entdeckte zudem einen bisher einen in dieser Klarheit unbeschrieben charakteristischen Punkt, ab dem die äußere Region der turbulenten Grenzschicht beginnt, ihre selbstähnliche Struktur beizubehalten. Die Ergebnisse werden in einem neuen Artikel im Journal of Fluid Mechanics veröffentlicht.

„Unser Team hat sich zum Ziel gesetzt, unerforschte Parameterregime in turbulenten Grenzschichten zu verstehen“, sagt Jason Appelbaum, Doktorand im Wenzel-Labor und Leiter dieser Forschungsarbeit. „Mittels einer groß angelegten Simulation, die die Entwicklung der Turbulenz vom Anfang bis zum voll entwickelten Zustand vollständig auflöst, haben wir erstmals einen hochauflösenden, verlässlichen Datensatz geschaffen. Damit können wir untersuchen, wie Effekte bei hohen Reynoldszahlen entstehen.“

Warum die Untersuchung moderater Reynoldszahlen schwierig ist 

Während eines Fluges verursachen Turbulenzen sehr hohe Scherspannungen an der Oberfläche des Flugzeugs. Der daraus resultierende Luftwiderstand kann die Flugleistung und die Treibstoffeffizienz verringern. Um diesen Effekt vorherzusagen, stützen sich Luft- und Raumfahrtingenieur:innen auf Berechnungsmodelle der turbulenten Grenzschicht – dem millimeterdünnen Bereich, in dem die Oberfläche des Flugzeugs mit der frei strömenden Luft interagiert.

Für industrielle Anwendungen müssen die Turbulenzmodelle die Physik nicht bis ins kleinste Detail nachbilden; sie müssen nur für den praktischen Einsatz geeignet sein und mit geringen Rechenressourcen reibungslos funktionieren können. Bevor Ingenieur:innen solche vereinfachten Modelle verwenden können, ist jedoch Forschung mit Hoch- und Höchstleistungsrechnern notwendig, um die Daten zu liefern, auf denen diese Modelle basieren. Aus diesem Grund setzt das Wenzel-Labor seit Langem die direkt numerische Simulationssoftware NS3D auf den Supercomputern des HLRS ein. Mit dieser von dem Labor über Generationen entwickelten Software lassen sich grundlegende physikalische Eigenschaften von turbulenten Grenzschichten mit extrem hoher Auflösung untersuchen. 

Forschende auf dem Gebiet der numerischen Strömungsmechanik (CFD) verwenden sogenannte Reynoldszahlen, um den Entwicklungszustand einer turbulenten Grenzschicht zu charakterisieren. Die Reynoldszahl ist das Verhältnis von Trägheitskräften zu viskosen Kräften in einer Flüssigkeitsströmung, das den lokalen Bereich der turbulenten Wirbelgrößen bestimmt. Bei niedrigen Reynoldszahlen, die zu Beginn der Bewegung einer Oberfläche durch Luft auftreten, werden nichtlineare konvektive Instabilitäten, die für Turbulenzen verantwortlich sind, schnell durch viskose Kräfte auf kleinen Skalen gedämpft. Mit zunehmenden Reynoldszahlen wird die turbulente Grenzschicht dicker. Große, kohärente Strukturen entstehen und schaffen ein komplexeres turbulentes System. Diese Strukturen lassen sich nicht einfach aus den Trends bei niedrigen Reynoldszahlen ableiten, sondern besitzen eigene Eigenschaften.

Der obere Teil dieser Abbildung zeigt die groß angelegte Simulation des IAG-Teams, die die vollständige Entwicklung einer turbulenten Grenzschicht von niedrigen bis zu hohen Reynolds-Zahlen erfasst hat. Wenn eine Strömung über eine Oberfläche fließt, wird der äußere Bereich der turbulenten Grenzschicht dicker. Ab einem bestimmten Punkt behält sie ähnliche physikalische Eigenschaften bei. Bild: IAG, Universität Stuttgart

In der Vergangenheit haben CFD-Simulationen umfangreiche Datensätze zum Verständnis der Turbulenz bei niedrigen Reynoldszahlen geliefert. Das liegt daran, dass die Größe des Rechengebiets und die Anzahl der benötigten Simulations-Zeitschritte in diesem Stadium noch relativ gering sind. Demzufolge sind diese Simulationen aus heutiger Sicht verhältnismäßig erschwinglich. Auch Laborexperimente liefern wertvolle Daten für die Turbulenzforschung. In ihrer Studie konzentrierten sich die Forschenden auf hohe Reynoldszahlen, da dies aus physikalischen Gründen notwendig war. Sensoren lassen sich nur bis zu einer gewissen Grenze verkleinern, und grundlegende Größen wie die Scherspannung sind im Labor nur schwer mit hoher Genauigkeit messbar.

Infolgedessen haben Wissenschaftler:innen eine Fülle von Simulationsdaten für niedrige Reynoldszahlen und zuverlässige experimentelle Daten für hohe Reynoldszahlen zusammengetragen. Was jedoch fehlte, war ein klares Bild davon, was dazwischen passiert. Im mittleren Bereich sind sowohl die Simulation als auch die experimentellen Methoden nur von begrenztem Nutzen. Appelbaum und seine Mitarbeitenden im Wenzel-Labor haben sich vorgenommen, dieses Problem direkt anzugehen.

Ein scharfer Knick

Die Ergebnisse von Appelbaums Simulation auf dem dem Supercomputer Hawk des HLRS geben die gesamte Entwicklung einer turbulenten Grenzschicht von niedrigen bis zu hohen Reynoldszahlen wieder. Obwohl die „reale“ Situation, die die Simulation darstellte, verschwindend klein erscheinen mag – sie bewegt sich für etwa 20 Millisekunden mit doppelter Schallgeschwindigkeit – erforderte die Kampagne eine große Rechenleistung. Das Team nutzte 1.024 Rechenknoten (mehr als 130.000 Kerne) auf Hawk. Das entsprach einem Viertel der gesamten Maschine. Hunderte von kurzen Durchläufen dauerten jeweils vier bis fünf Stunden. Insgesamt benötigte die Simulation mehr als 30 Tage Computerlaufzeit.

„Die meisten Forschungsgruppen würden nicht das Risiko eingehen, so viel Rechenzeit für ein Problem wie dieses aufzuwenden, und sich stattdessen anderen interessanten Forschungsproblemen zuwenden, die nicht so teuer sind“, so Appelbaum. „Wir setzten alles auf eine Karte, um eine seit Langem bestehende Forschungslücke zu untersuchen.“

Doch die Investition hat sich gelohnt. In ihrer groß angelegten Simulation konzentrierten sich die Forschenden unter Anderem auf den Reibungskoeffizienten, einen Wert, der das Verhältnis zwischen der Schubspannung an einer festen Oberfläche in einem sich bewegenden Fluid und dem freien Impuls der Strömung darstellt. Er ist ein Schlüsselparameter, der die Form des mittleren Geschwindigkeitsprofils beschreibt und für die Bestimmung des viskosen Widerstands entscheidend ist. 

Frühere Forschungen lieferten Daten, die die Oberflächenreibung (cf) bei niedrigen und hohen Reynoldszahlen widerspiegelten. Eine groß angelegte Simulation auf dem Hawk-Supercomputer des HLRS zeigte zum ersten Mal einen bestimmten Zeitraum bei moderaten Reynoldszahlen, in dem eine grundlegende Veränderung eintritt. Bild: IAG, Universität Stuttgart

Appelbaum nutzte die Ergebnisse der Simulation, um zu zeigen, wie die zuvor getrennten Datensätze für niedrige und hohe Reynoldszahlen zusammenpassen. Während frühere Forschungsarbeiten nur mittels Interpolation abschätzen konnten, wie sich die Datensätze überschneiden könnten, zeigen die Ergebnisse des IAG-Teams eine einen überraschend scharfen Knick. Insbesondere wurde eine Änderung der Skalierung der Oberflächenreibung festgestellt, die mit der Entstehung eines voll entwickelten Zustands in den äußeren 90 Prozent der Grenzschicht verbunden ist. Dieser selbstähnliche Zustand ist ein Meilenstein in der Entwicklung der turbulenten Grenzschicht. Er signalisiert, dass sich das Skalierungsverhalten auf vorhersehbare Weise fortsetzt, wenn sich die Schicht zu industriell relevanten Reynoldszahlen entwickelt.

„Um Selbstähnlichkeit zu verstehen, hilft es, sich das Seitenverhältnis eines Fotos vorzustellen“, erklärt Appelbaum. „Für ein rechteckiges Bild mit einem Seitenverhältnis von 1:2 spielt es keine Rolle, ob das Bild so groß ist wie meine Hand oder ob ich es auf die Größe eines Busses skaliere. Die Beziehungen zwischen den Elementen auf dem Foto ähneln sich, egal wie groß es ist. Unsere Arbeit bestätigt, dass die äußere Region der turbulenten Grenzschicht die gleiche Art von Selbstähnlichkeit annimmt, sobald das System eine bestimmte Reynoldszahl erreicht. Wichtig ist, dass dieser Zustand an das sich verändernde Skalierungsverhalten des Reibungskoeffizienten gekoppelt ist. Dieser bleibt bis zu sehr hohen Reynoldszahlen, wie sie in der Luft- und Raumfahrt vorkommen, erhalten. Dies ermöglicht uns einen frühen, aber realistischen Einblick in das turbulente Verhalten in diesem ultimativen Turbulenzbereich.“

Höhere Leistung bietet Chancen für Forschung und Technik

Dank dieses neuen Datensatzes können Forschende im Bereich der numerischen Strömungsmechanik turbulente Grenzschichten bei moderaten Reynoldszahlen untersuchen. Der nächste Schritt des Wenzel-Labors wird darin bestehen, die Physik hinter dem identifizierten Knickpunkt zu ergründen. Appelbaum sagt, dass das Team bereits Ideen dazu hat und plant, in Kürze eine weitere Publikation zu veröffentlichen.

Während anderer Forschungsarbeiten hat das Wenzel-Labor den NS3D-Code auf GPUs auf dem neuesten Supercomputer des HLRS, Hunter, portiert. Mithilfe des User Supports am HLRS und des Computerprozessorherstellers AMD hat das Team bereits sichergestellt, dass der Code auf dem neuen, GPU-beschleunigten System physikalisch präzise und leistungsfähig bleibt. In den kommenden Monaten wird NS3D so optimiert, dass er die Leistung von Hunter voll ausschöpfen kann. 

„Wir werden in der Lage sein, größere Gebiete mit noch höheren Turbulenzzuständen zu simulieren“, sagte Appelbaum. „Mehr Rechenleistung wird Studien ermöglichen, bei denen wir mehrere Simulationen durchführen, um das Skalierungsverhalten von zwei oder mehr Parametern gleichzeitig zu untersuchen.“ 

In einer Arbeit, die diese Forschungsrichtung aufweist, hat Tobias Gibis, Mitglied des Wenzel-Labors und Mitautor der vorliegenden Forschungsarbeit, kürzlich seine Dissertation verteidigt, in der er das Skalierungsverhalten von Wärmeübertragung und Druckgradienten in turbulenten Grenzschichten vereinte. Appelbaum fügte hinzu: „Die Reynoldszahl-Effekte in Christophs und Tobias Forschungsarbeiten über den Einfluss von Wärmeübertragung und Druckgradienten miteinzubeziehen, hätte zweifellos einen sehr hohen wissenschaftlichen Wert. Die Unterstützung und die Ressourcen des HLRS sind die Grundlage für diese umfangreichen Berechnungen.“

In der Zwischenzeit wird der Datensatz des Teams bei moderaten Reynoldszahlen zu einem Datenpool über turbulente Strömungen an Wänden beitragen. In Zukunft könnte er die Entwicklung umfangreicherer, genauerer Turbulenzmodelle unterstützen. Dies wird Ingenieur:innen Chancen zur Optimierung von Flugzeugkonstruktionen für ein breiteres Spektrum von Betriebsbedingungen und zur Verbesserung anderer Maschinen wie Ventilatoren oder Autos eröffnen, deren Effizienz von der Beherrschung der Effekte in turbulenten Grenzschichten abhängt.

Christopher Williams

Weiterführender Artikel

Appelbaum J, Gibis T, Pirozzoli S, Wenzel C. 2025. The onset of outer-layer self-similarity in turbulent boundary layers. J Fluid Mech. 1015: A37.

Hawk und Hunter werden vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg und dem Bundesministerium für Forschung, Technologie und Raumfahrt über das Gauss Centre for Supercomputing (GCS) gefördert.